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Freudenthalpries 2025

Priesverlehen: Meike Moog-Steffens, Börgermestersche; Wilko Lücht, Freudenthal-Utteken, Dr. Gerrit Appenzeller, Jury; Karin Thorey, Vörsittersche bi den Freudenthalvereen (Foto: Ege)
Priesverlehen Freudenthalpries 2025:: (v.l.) Meike Moog-Steffens, Börgermestersche; Wilko Lücht, Freudenthal-Utteken, Dr. Gerrit Appenzeller, Jury; Karin Thorey, Vörsittersche bi den Freudenthalvereen (Foto: Ege)

Robert Langhanke vun de Uni Flensborg un Maat vun de Jury, see in sien Laudatio (27.9.2025):

Geronnenes Leben, lebendige Notiz. Laudatio auf Birgit Lemmermanns Zyklus „Wat Ji nich mehr to sehn kriegt. Lütte Notizen ut en Achterklapp“

Diese Texte ordnen sich im Titel des Zyklus selbst ein. „Lütte Notizen“ nennen sie sich, „lütte Notizen ut den Achterklapp“, die gleichsam hinterhergerufen werden, nachgeschoben zu einem ganzen Leben, ein Nachhall vieler Lebensmomente, ein Nachruf auf Erlebtes, Erfahrenes, Erwünschtes. Der Haupttitel „Wat Ji nich mehr to sehn kriegt“ adressiert die Umwelt, die Lesenden und alle anderen, und produziert einen überraschenden Widerspruch. Diese Existenzmomente sollen sich uns entziehen, aber zu sehen bekommen wir sie doch, sie liegen vor uns in Form von 15 Prosastücken unterschiedlicher Länge und einem isolierten Fragewort am Ende, das allen Texten ein „Wat!?“ hinterhersendet, ebenso überrascht wie fragend, vielleicht sogar schockiert darüber, dass alles vorbei sein soll.

Man schreckt davor zurück, diese Texte als Prosa einzuordnen, denn sie sind doch etwas Anderes. Sie bieten gebundene und rhythmische Prosa, bei der jedes einzelne Wort abgewogen ist und mitzählt, Sprache wird zum Gegenstand unbedingter Gestaltung. Zum einen gezähmt und beherrschbar, zum anderen wild und unbeherrscht im Ausdruck des Gefühls und der lebendig erhaltenen Erfahrungen.

Es sind konzentrierte Texte, die in diesem Gewand entgegentreten als ein Zyklus mit durchdachter Struktur und unterschiedlicher Formung. Einige Bausteine tragen den Titelzusatz Fragment und öffnen damit noch mehr den Blick für das Offengebliebene, das Nichtgesagte, das Nichterinnerte, Nichterlebte und hier nicht notierte. Vieles im Leben bleibt Fragment, und das ist richtig, erinnert diese Erkenntnis doch an die Endlichkeit aller Bemühungen.

Verschiedene Bilder drängen sich auf für diese Notizen. So die Pappschachtel mit Notizen auf dem Schreibtisch, oder die Kiste mit Bildern im Schrank. Sammelorte des Lebens, das auf Notizen geronnen ist. Sie werden zum Ausgangspunkt einer Poetisierung dieses Lebens und lassen vergangene, erinnerte Alltäglichkeit zur Kunst werden. Das, was war, wird zum ästhetischen Moment und ist in ihm wieder und wieder erlebbar. Tante Lieschens Laden war erlebte Wirklichkeit, und nun ist er ein Prosagedicht, geteilt mit Anderen. Die Notiz aus den Vorerfahrungen zu unserer Gegenwart ist nun ein literarisches Denkmal geworden für das, was ansonsten im Alltag nicht mehr greifbar ist. Denkmal aber klingt zu wuchtig für das, was die Texte eigentlich sind. Sie sind bisweilen leichtflüssige, stets exakt komponierte Gebilde einer genau abgemessenen Textlichkeit, die ihr Material beherrscht, sowohl das sprachliche als auch das inhaltlich-thematische Material.

Selbstreflexive Gedanken eröffnen den Zyklus in seinem vielleicht stärksten Einzelstück. In einem einzigen Satz über 15 genau abgemessene Zeilen wird die Klage über eine Welt vereint, die den Mond nicht mehr mit uns reden lässt, die den „Dichtersminsch“ verstummen lassen könnte, es dann aber doch nicht tut, denn alles bricht aus diesen Zeilen heraus, das gesamte Elend der Welt. Der „Dichtersminsch“ singt laut von der geschundenen Kreatur, ob Tier oder ob Mensch, von Vernichtung und Vertreibung, ohne Hoffnung auf Erlösung durch den Mond oder die ewigen Kräfte der Natur. Mit „Wat, weer ik en Dichtersminsch, harr ik to schrieven noch vun / Natur un all de Derten“ setzt die poetische Notiz selbstreflexiv ein, um nicht mehr abzulassen bis zu demjenigen Ausruf „Wat?“, der zudem mit leichter Variation auch den Gesamtzyklus beschließen wird. „Wat!?“

Dieses erste Stück zieht die Lesenden mit poetischer Kraft in den Zyklus hinein, der Sprachrhythmus entfaltet einen Sog, einen atemlosen Strudel, dem sich niemand entziehen kann. Woran liegt das? Der Effekt wird erzielt durch immer neue Eindrücke des Grauens, die unvermittelt aufeinander folgen und durch Zeilensprünge, die uns unbedingt in die nächste Zeile hineinziehen. Gleichsam atemlos durch den Text, aber diese Reminiszenz an die unverwüstliche Popularkultur sei sogleich wieder gestrichen.

Die Ausführungen folgen dem Zyklus so, wie er sich dem Lesenden und Hörenden entfaltet, den er agiert weder willkürlich noch zufällig, zumindest lassen wir das nicht zu. Das zweite Stück „Missingsch“ verschiebt den Fokus vom Elend der gesamten Schöpfung auf den individuellen Erinnerungsraum und die Vielfältigkeit seiner Wahrnehmung. Vielleicht entsteht er in dem Moment, in dem ein Zimmer oder ein Haus geräumt werden muss, also einem Moment, indem unerbittlich alles in die Hände und vor Augen gerät, was über Jahre und Jahrzehnte verschollen war. Und doch, „To laat harr ik begrepen, dat sünd nich de Steden, de wi missen / doot, de Hüüs nich, de Minschen“. Die allzu sichtbare Wahrnehmung der äußeren Welt ist es nicht, die den Erinnerungsraum absteckt. Dieser Text in drei Abschnitten dringt viel tiefer vor. Von zeitlos gewordenen Sinneswahrnehmungen ist die Rede, die Zusammenhänge lösen sich auf und „Allens, allens is inschrieven in uns sülst, in den Liev“. Er ist Zeichen jeder Wahrnehmung und Erfahrung, mit ihm gelangen wir „an den deepen, deepen Grunn, denn / wi, scheef al, man even noch rimmt“.

Die dritte Notiz vom „Delfter Blau“ lässt keinen Zweifel daran. Alles wird vergehen, ob es uns nah stand oder fern. „Un allens, allens / harr sien Tiet sehn un güng vergeten un weer överschreven mit / dat Hillige vun en Vundaag, wat al morgen en Gistern ween warrt / un ok: gau vergeten.“ Und doch, inmitten unaufhaltsamer Vergänglichkeit der kleinen Hofstätte, die nichts beansprucht über die Zeiten hinweg, „leeg disse / lütte Schergen“, diese Kachel von Delfter Blau mit ihrer Sehnsucht nach Wasser und Schiff. Sie allein leuchtet über die Vergänglichkeit hinweg, wer hätte es vorher gedacht, wer hat sie gefunden. War es Zufall, oder war es Fügung?

Die vierte Notiz verkündet dat „Enn vun all Sommers“ und lässt sich nun doch intensiv ein auf die erinnerte kindliche Wahrnehmungswelt an der Kaffeetafel der Großmutter und ihrer Nachbarinnen, die bis in die kleinste Sinneswahrnehmung nacherlebt und damit doch dem unerbittlichen Vergessen entrissen wird. „Grootmudder bleek ut / un mit ehr mit, ünnereerds bröcht vun all de Blomen un all dat / Ranken, de Koffietafel, dat rode Sofa, de Schöttel mit de / Schokolinsen in Witt un Rosa, en häkelte Spitzendeek, ok de Klock / an de Wand hollt swiegstill un sachs, en lüürlüttbeten wat later, is / ok de Hoff al nicht mehr to sehn.“ In dieser Notiz aber ist der Hof noch zu sehen, und nicht nur das. Mit allen Sinnen baut sich das Denken und Wirken vun „all de olen / Froonslüüd“ am Kaffeetisch wieder auf. Gibt es diese Kaffeetische, denen nichts fremd war und die jedes Tabu auf ihre Weise überwanden, auch heute noch? Es ist nur eine leise Hoffnung auf das, was nicht wiederkehrt.

„Mien lütte swatte Kater, […], de speel / mit en lütt Papeerschipp in de Morgensünn.“ Hätte er es nicht tun sollen? Doch, und dennoch ist die fünfte Notiz als Verpflichtung formuliert. „Wat ik nich vergeten will“ lässt der Trauer über die verlorene Katerunversehrtheit Raum. Ein Schiff, das nicht auf Reisen ging, ein kleiner schwarzer Kater, der im Spiel überfahren wird. Das Leben bleibt unvollendet und wir in ihm. Wenn der Verlust ausgesprochen wird, verschiebt sich der Schmerz.

Die sechste Notiz „Oog vun den Lööw“ geht noch einen Schritt weiter und beschreibt ihre Existenz als Fragment, als Ausschnitt aus einer ebenso traumbehafteten wie wirklichkeitsnahen Wahrnehmung einer Zerstörung. Im kurzen zweiten Abschnitt wird der kleine Spielzeugladen an nur einem Tag weggerissen, aber noch am Vortag hat sich der Löwe aus seinem Schaufenster ein für allemal befreit, und schließlich ist er „blots noch as jumpen Plack to sehn“. Wir haben die Kraft und manchmal auch die Pflicht, uns zu befreien.

Fragment 2 knüpft als siebte Notiz direkt an und führt die Erinnerung noch einmal durch „Tante Lieschen ehr Laden“, ehe Lieschen zwischen den Ritzen ihrer Holzdielen verschwand und eine Welt sich von selbst auflösen musste, die keinen Wandel kannte, nur Vergänglichkeit. „Un wi leven / bilütten annerweerts, in anner Kamers, anner Spraken, as / de Geschichten keen Enn finnen wullen un bams amenn ok / buten, vör de Bordsteenkant, dat Dörp un allens, wat wi / to kennen menen, lang al ünnergahn weer.“ Die Fragmentnotiz begleitet das erinnernde Ich durch seine Lebensphasen. Schließlich überwiegt der Eindruck, dass alle Erinnerungen und Wahrnehmungen noch da sind und gerade nicht überlagert wurden.

Es muss nicht stets das große Ganze sein. Die anschließenden Notizen acht bis zwölf werden beiläufiger, kündigen sich als Funde aus „Pappkartons un Billerrahmens“ an, die vielleicht auch einem „minnachtig Denken“ ausgeliefert sind durch die unerbittliche Umwelt. Aus den Argonuten werden die „Egonauten“, und tatsächlich wecken diese kleinen Funde, Bilder und Notizen aus dem unbestechlichen Pappkarton keine schönen Gedanken mehr an kindliche Sicherheit und Lebenswelt. Gescheitertes und Unvollendetes lässt sich nicht immer nur verbergen. „De hele Tiet deen se as geev dat nix to doon, nix to / schnacken, nix, wat över weer.” Das Leben schlägt Wunden und schreibt sie auch in Bilder und Notizen ein.

Den abschließenden drei Notizen 13 bis 15 aber gelingt es wieder, die „minnachtigen“ Gedanken hinter sich zu lassen. Dreimal wird ein „Regenkoffiedag“ unter der Überschrift „Vun wieter af“ aufgerufen. Diese Notizen versöhnen das notierende Ich mit der Welt. In „Deel 1“ fehlt dem Mann am Nachbartisch ein Eckzahn. In einem Moment fällt es auf, und im nächsten Moment ist es ohne Belang.

Auch eine minimale Störung der statischen Situation in „Deel 2“ ist nicht von Belang. „Nüms / kreeg dorvun wat mit.“ Die Wahrnehmungen der Welt sind und bleiben unterschiedlich. Alles vollzieht sich, ob wir es wollen oder nicht.

Und schließlich die dritte und abschließende Beobachtung „Vun wieter af“. „Vör den Bioladen treck sik en Blauhaarte ehr T-Shirt ut / un beet vun den Achterkragen dat Priesteken af. / Ut Versehens harr ik meist al den Hauhechelikarus: / slichtweg vergeten. // Wat?“

Wie stellen wir uns den „Hauhechelikarus“ vor? In der Gegenwart angekommen, ärgert sich das notierende Ich. Die Sicherheit der Erinnerungen gilt nicht mehr. Das wahrnehmende Ich befindet sich vielmehr in einem Ausnahmezustand. Die Umgebungswelt fordert heraus. Das Ich tritt ihr mit der Frage „Wat!?“ auf der allerletzten Seite des Zyklus noch einmal entgegen. So überwiegt am Ende doch Verunsicherung, obwohl vielen Notizen auf dem Weg durch den Zyklus sprachlich und inhaltlich in sich ruhen. Sicherheit mag nur die lang zurückliegende Erinnerung gewähren.

Lemmermann ist zur Meisterin der rhythmischen Prosa geworden und hat die niederdeutsche Literatur nach „Achterdags. Negen lütte Schergen“ von 2020 noch einmal um diesen formalen Ansatz bereichert.

Der Kosmos dieser Notizen ist dörflich und kleinstädtisch. Er führt uns in die norddeutschen Dörfer, die es so nicht mehr gibt. In denen alte Frauen aufgeräumte Läden mit vergilbten Waren haben, die jedem Wandel trotzen, bis ihre eigene Zeit abgelaufen ist und die Uhr stehenbleibt. Diese stehengebliebene Uhr zieht sich als Motiv durch den Zyklus. Auf die Frage am Ende aber, auf unsere Fragen gibt es keine Antwort, das „Wat!?“ bleibt offen.

Keine Notiz durfte zurückbleiben. Vielmehr besteht die Hoffnung, dass sich noch mehr Notizen finden lassen. Wo Fragment ist, dort ist auch Fortsetzung, Ergänzung, ein Achterklapp zum Achterklapp. Ob „Notizen“ oder „Schergen“, weshalb sollten sie endgültig aufgekehrt und aufgeschrieben sein? Da sind doch noch welche. Dor sünd noch welk.

Man kann nicht genug bekommen von diesen kunstvollen Notizen. Wir schütteln dat Achterklapp, fällt noch etwas heraus? Bestimmt tut es das.

Dichtung bedeutet, nicht zu verstummen angesichts von Leid und Elend und Freude und Zuversicht in der Welt und in uns selbst. Dichtung ist Ventil, Wüstenruf, lautes Singen und leises Weinen. Sie ist Emotion. Zumindest bei Lemmermann, de Dichtersminsch ut Ahlerstedt. Maak man wieder, Birgit, maak wieder, sing Dien Leed, wi höört Di to.

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